Ganz nah dran an den Geisterteilchen
Große Schritte auf dem Weg zum Verständnis der Neutrino-Eigenschaften
2019-09-05 – News from the Physics Department
Das Standardmodell der Teilchenphysik ist seit seinen Anfängen in den 1960er Jahren nahezu unverändert geblieben. Widersprüche zwischen Theorie und Experiment haben sich bislang nur bei Neutrinos gezeigt. Die so genannte Neutrino-Oszillation war dabei die erste Beobachtung, die nicht mit den Vorhersagen des Standardmodells übereinstimmte: Die drei bekannten Neutrino-Arten können sich auf ihrem Weg durch das Universum ineinander umwandeln - was beweist, dass Neutrinos eine Masse ungleich Null haben (Nobelpreis 2015). Eine Eigenschaft, die dem Standardmodell widerspricht.
Sind Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen?
Hinzu kommt die mehr als 80 Jahre alte Vermutung, dass Neutrinos so genannte Majorana-Teilchen sind: Sie könnten, anders als alle anderen Bausteine der Materie wie Elektronen oder Quarks, ihre eigenen Antiteilchen sein. In diesem Fall wäre ein neutrinoloser doppelter Betazerfall möglich, bei dem Materie ohne die ausgleichende Bildung von Antimaterie erzeugt wird. Dies würde auch eine Erklärung dafür liefern, warum es im Universum so viel mehr Materie als Antimaterie gibt.
Prof. Stefan Schönert leitet das TUM-Team
Mit Hilfe des internationalen GERDA-Experiments im Gran Sasso-Untergrundlabor (LNGS) soll die Majorana-Hypothese überprüft werden. Zur GERDA Kollaboration gehören in Deutschland die Technischen Universitäten München und Dresden, die Universität Tübingen und die Max-Planck-Institute für Physik und Kernphysik. Die TUM-Forschungsgruppe wird von Prof. Stefan Schönert geleitet, der den Lehrstuhl für Astroteilchenphysik innehat.
Zwei Neutronen zerfallen gleichzeitig in zwei Protonen
Das GERDA-Team sucht nach dem neutrinolosen doppelten Betazerfall im Germanium-Isotops 76Ge: Zwei Neutronen in einem 76Ge-Kern wandeln sich gleichzeitig in zwei Protonen um, wobei zwei Elektronen emittiert werden. Dieser Zerfall ist im Standardmodell verboten, da die beiden normalerweise produzierten Antineutrinos – die ausgleichende Antimaterie – fehlen.
Das GERDA Experiment verfügt über die höchste Empfindlichkeit
Die Empfindlichkeit zum Nachweis des neutrinolosen doppelten Betazerfall hängt weitgehend von Störsignalen aus der Umgebungsradioaktivität ab. Das GERDA-Experiment hat diese Störsignale mittels Abschirmung mit hochreinem Wasser und flüssigem Argon sowie anderen Methoden fast vollständig ausgeschaltet. Damit ist GERDA das erste Experiment auf dem Gebiet, das eine Empfindlichkeit für die Halbwertszeit des Zerfalls von 1026 Jahren unterschritten hat; mit anderen Worten: der gesuchte neutrinolose doppelte Betazerfall hat, sofern er existiert, eine Halbwertszeit von mindestens 1026 Jahren, das sind 16 Größenordnungen mehr als das Alter des Universums. Dies entspricht einer Rate von weniger als einem Zerfall pro 18 Jahre für 1 kg 76Ge.
Die Halbwertszeit korrespondiert mit der Neutrinomasse
In der Standardinterpretation dieses Zerfalls korrespondiert diese Halbwertszeit mit einer speziellen Variante der Neutrinomasse, der Majorana-Masse. Kombiniert man die neue GERDA-Untergrenze mit denjenigen anderer Doppel-Beta-Zerfallsexperimente, so muss diese Masse unter 0,07 - 0,16 eV/c2 liegen [1].
Keine Widersprüche mit anderen Experimenten
Auch andere Experimente grenzen die Neutrinomassen ein: Die jüngste Analyse der Planck-Daten zur Untersuchung der kosmischen Hintergrundstrahlung kommt für die Summe der Massen aller drei bekannten Neutrino-Arten auf einen Wert von unter 0,12 – 0,66 eV/c2. Das Tritiumzerfallsexperiment KATRIN am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) wird in den kommenden Jahren die Masse des Elektron-Neutrinos bestimmen. KATRIN wird dabei eine Empfindlichkeit von ca. 0,2 eV/c2 erreichen. Zwar können diese Werte nicht direkt miteinander verglichen werden, aber sie erlauben es, die unterschiedlichen Modelle zu überprüfen. Bislang gibt es keine Widersprüche.
Im Beobachtungszeitraum von April 2015 bis April 2018 wurde GERDA mit einem Germaniumdetektor mit einer Gesamtmasse von 35,6 kg betrieben. Zur Erhöhung der Empfindlichkeit wurde der Anteil des Isotops 76Ge, dessen natürlicher Wert bei 7,8 Prozent liegt, auf über 85 Prozent angereichert.
Erhöhung der Detektormasse und der Sensitivität
Nun soll im nächsten Schritt die Detektormasse vergrößert und der Untergrund noch weiter reduziert werden. Dazu soll die Störsignalerkennung verbessert und die den Detektor umgebenden Materialien noch reiner werden.
Von GERDA zu LEGEND
Um dieses Ziel zu erreichen hat sich mit LEGEND eine neue internationale Zusammenarbeit geformt, deren Sprecher Prof. Stefan Schönert von der TUM ist. Prof. Schönert hat für die vorbereitenden Forschungsarbeiten an diesem neuen Großprojekt im Jahr 2018 einen ERC Advanced Grant erhalten. Bis zum Jahr 2021 soll eine Gesamtmasse von 200 kg 76Ge erreicht sein, wobei zunächst die bestehende GERDA-Infrastruktur im Gran Sasso Untergrundlabor genutzt werden soll. Die Wissenschaftler planen, nach etwa fünf Jahren eine Empfindlichkeit für die Messung der Halbwertszeit von 1027 Jahre zu erreichen.
Fußnote
[1] | Massen werden in der Teilchenphysik statt in Kilogramm entsprechend der Einsteinschen Gleichung \(E = mc^2\)in Elektronenvolt [eV] (als Einheit für die Energie)/Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat angegeben, da der Zahlenwert sonst unpraktikabel klein würde: 1 eV/c2 entspricht \(1,8 \times 10^{-36}\) Kilogramm. |
Weitere Informationen
GERDA ist eine internationale europäische Kollaboration von mehr als 100 Physikern aus Belgien, Deutschland, Italien, Russland, Polen und der Schweiz. Die finanzielle Unterstützung in Deutschland kommt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) über den Exzellenzcluster Universe und den SFB1258 sowie von der Max-Planck-Gesellschaft.
Veröffentlichung
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