Ein Gedächtnis ohne Gehirn
Wie ein einzelliger Schleimpilz ohne Nervensystem Entscheidungen trifft
2021-02-22 – Nachrichten aus dem Physik-Department
Die Fähigkeit, Informationen zu speichern und abzurufen, verschafft einem Organismus einen klaren Vorteil bei der Nahrungssuche oder bei der Vermeidung von Gefahren und wird bislang nur mit Organismen in Verbindung gebracht, die ein Nervensystem besitzen. Eine neue Studie von Mirna Kramar (MPI-DS) und Prof. Karen Alim (TUM und MPI-DS) findet hingegen überraschende Fähigkeiten eines hochdynamischen, einzelligen Organismus, der Informationen über seine Umgebung speichert und nutzt.
Fenster in die Vergangenheit
Der Schleimpilz Physarum polycephalum gibt Forschern seit Jahrzehnten Rätsel auf. An der Grenze zwischen Tier-, Pflanzen- und Pilzreich gelegen, bietet dieser einzigartige Organismus Einblicke in die frühe Evolutionsgeschichte der Eukaryonten. Sein Körper ist eine riesige Einzelzelle, die aus miteinander verbundenen Röhren besteht, die ein faszinierendes Netzwerk bilden. Diese einzelne amöbenartige Zelle kann mehrere Zentimeter oder sogar Meter groß werden, was ihr im Guinness-Buch der Rekorde den Titel als größte Zelle der Erde einbrachte.
Die verblüffende Fähigkeit des Schleimpilzes, komplexe Probleme zu lösen, wie beispielsweise den kürzesten Weges durch ein Labyrinth zu finden, brachte ihm das Attribut “intelligent” ein, faszinierte die Forschergemeinde und entfacht Fragen zur Entscheidungsfindung auf den grundlegendsten Ebenen des Lebens. Die Entscheidungsfähigkeit von Physarum ist besonders faszinierend, weil sein röhrenförmiges Netzwerk ständig einer schnellen Reorganisation unterliegt – Röhren wachsen oder lösen sich wieder auf. Dabei verfügt der Organisums gar nicht über ein organisierendes Zentrum.
Wie die beiden Forscherinnen herausfanden, webt der Organismus Erinnerungen an Nahrungsorte direkt in die Architektur des netzwerkartigen Körpers ein und nutzt die damit gespeicherten Informationen bei zukünftigen Entscheidungen.
Entscheidungen werden von Erinnerungen geleitet
“Es ist sehr aufregend, wenn sich ein Projekt aus einer einzigen experimentellen Beobachtung entwickelt”, sagt Karen Alim, Leiterin der Forschungsgruppe Biologische Physik und Morphogenese am MPI-DS in Göttingen und TUM-Professorin für die Theorie biologischer Netzwerke. “Wir haben die Fortbewegung und die Nahrungsaufnahme des Organismus verfolgt. Dabei fanden wir einen deutlichen Abdruck der Nahrungsquellen im Muster der dickeren und dünneren Röhren des Netzwerks, der auch lange nach der Nahrungsaufnahme noch beobachtbar ist. Angesichts der schnellen Reorganisation des Netzwerks von P. polycephalum weckte die Persistenz dieses Abdrucks die Idee, dass die Netzwerkarchitektur selbst als Gedächtnis der Nahrungsorte dienen könnte. Allerdings mussten wir zunächst den Mechanismus entschlüsseln, der hinter der Bildung der Netzwerkmusters steckt.”
Dazu kombinieren die Forscherinnen mikroskopische Beobachtungen der Anpassungen des röhrenförmigen Netzwerks mit theoretischer Modellierung. Ein Kontakt mit Nahrung löst im Inneren der Zelle die Freisetzung einer Chemikalie aus, die sich vom Fundort der Nahrung durch den gesamten Organismus bewegt und die Röhren im Netzwerk weicher macht, so dass sich der Organismus neu auf die Nahrung ausrichtet.
“Dort wo die Röhren allmählich weicher werden, kommen auch die noch vorhandenen Abdrücke früherer Nahrungsquellen ins Spiel. Dort wird die gespeicherte Information abgerufen”, sagt Mirna Kramar, Erstautorin der Studie. “Vergangene Nahrungsaufnahmen sind in die Hierarchie der Röhrendurchmesser eingebettet, konkret in der Anordnung von dicken und dünnen Röhren im Netzwerk. Für die nun transportierte Weichmacher-Chemikalie wirken die dicken Röhren im Netzwerk wie Autobahnen im Verkehrsnetz und ermöglichen einen schnellen Transport durch den gesamten Organismus. Allerdings fließen auch frühere Nahrungsorte, die in der Netzwerkarchitektur eingeprägt sind, in die Entscheidung über die künftige Bewegungsrichtung mit ein.”
Universelle Prinzipien inspirieren das Design
Die Fähigkeit von Physarum, Erinnerungen zu bilden, ist angesichts der Einfachheit dieses lebenden Netzwerks verblüffend. “Es ist bemerkenswert, dass der Organismus einen so einfachen Mechanismus verwendet und ihn dennoch auf so fein abgestimmte Weise kontrolliert. Das stellt ein wichtiges Puzzlestück zum Verständnis des Verhaltens dieses uralten Organismus dar und weist darauf hin, dass dem Verhalten von Lebewesen universelle Prinzipien zugrunde liegen. Wir sehen mögliche Anwendungen dieser Erkenntnisse bei der Entwicklung von intelligenten Materialien und dem Bau von weichen Robotern, die durch komplexe Umgebungen navigieren”, schließt Karen Alim.
Veröffentlichung
Informationen zum Projekt
Die Arbeit wurde durch die Max-Planck-Gesellschaft gefördert.
Weitere Informationen über Prof. Karen Alim
Karen Alim ist seit kurzem Professorin für Theorie biologischer Netzwerke am Physik-Department der TUM. Sie erforscht, wie Form und Struktur im Leben entstehen. Das Ziel ist es, dabei die physikalischen Prinzipien zu identifizieren, die der Entwicklung und Funktion von Organismen zugrunde liegen.
Prof. Alim studierte Physik an der Universität Karlsruhe, an der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der University of Manchester. Für ihre Promotion forschte sie am Kavli Institute for Theoretical Physics der University of California in Santa Barbara und an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo sie 2010 promoviert wurde. Von 2010-2015 arbeitete sie an der Harvard University als Postdoktorandin und Dozentin, bevor sie 2015 als Max-Planck-Forschungsgruppenleiterin an das Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen wechselte. 2019 wurde Prof. Alim ans Physik-Department der TUM berufen.
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